Vision 

Das 1843 entstandene Gedicht: »Vision« gehört sicherlich, obwohl es nicht im "Glaubensbekenntniß" veröffentlicht wurde, zu einem der wichtigsten Belege des Wandels Freiligraths zum politisch engagierten Dichter.  

In einer fiktiven Begegnung prophezeit der frühbarocke Dichter Julius Wilhelm Zincgref, der als religiös-politisch engagierter Autor während den Wirren des "Dreißigjährigen Krieges" überzeugend Partei ergriff, dem Dichter Freiligrath: "...Trittst du auch auf die Seite / Der Freiheit als ein Mann!".  

Der bedeutende humanistische und frühbarocke Lyriker Julius Wilhelm Zincgref (Zinkgref) (3. 6.1591 - 12. 11. 1635), Mitglied des Heidelberger Kreises um Opitz, starb 1635 in St. Goar bei seinem Schwiegervater an der Pest. Da damals in St. Goar über 300 Personen an dieser Seuche starben, ist anzunehmen, daß Zincgref in einem Massengrab bei der evangelischen Stiftskirche seine letzte Ruhestätte fand. (s. Ensgraber, Hansenblatt Nr. 38/1985, S. 83f)  

Heute noch befindet sich der Friedhof der Stadt St. Goar am Schloßberg, der zur Burg Rheinfels führt. Freiligrath irrt sich aber, das Grab Zincgrefs hier zu vermuten, da dieser Friedhof zur Zeit des Todes dieses Dichters noch nicht bestand.  

Sein Bedauern: 

....
Nachließ er keine Spur,
Wie längst sein grüner Hügel 
Spurlos verloren ging der Flur.

macht aber deutlich, daß man in St. Goar wenig pfleglich mit seinem kulturellen Erbe umgeht. 


Der heute vielfach bedauerte Bedeutungsverlust des Mittelrheintales hat Freiligrath bereits in seiner St. Goarer Zeit vorausgesehen. 

In einem Brief vom 7. September 1843 an Adelheid von Stolterfoth äußert F. F. zum erstenmal die Absicht, St. Goar bald (fluchtartig!) zu verlassen: „. . . Wie lange, lange sind Sie nun nicht in St. Goar gewesen! Es wird wirklich fast oder gar schon ein Jahr sein; und wenn abgesehen selbst von dieser langen Frist, Sie überdieß in Erwägung ziehen: 

  1. daß die Lurley mit jedem Tage mehr in die Brüche geht;
  2. daß die schöne Wallnußbaum-Allee, die zum Rheinfels führt, nach vollendeter Nußernte abgehauen wird, und endlich:
  3. daß auch mein St. Goarer Poetenzelt (das Sie NB. noch gar nicht betreten haben) wohl die längste Zeit hier gestanden hat;

- so ist das alles, glaub' ich, Veranlassung genug, um noch einmal hierher zu kommen, so lange der status quo noch andauert . . . 


Immerhin ist es F. F. zu verdanken, daß die Abholzung der Wallnußbaum-Allee zur Rheinfels verhindert werden konnte. Ida Freiligrath (Freiligrath-Kroeker 1901) berichtet dazu:  . . Auch wurde er [Karl Heuberger] von F. damit getröstet, er könne einst das Loch, welches die Poeten in seinen [Wein-] Keller getrunken, für Geld sehen lassen. Außer dieser negativen Sehenswürdigkeit zieht St. Goar doch auch noch heutigen Tages einen positiven Nutzen aus der damaligen Poetenzeit; ohne die beiden Dichter (Freiligrath und Geibel) wäre die schöne Nußbaumallee, die nach dem Rheinfels führt, längst nicht mehr vorhanden. Als sie eines Tages in der Gesellschaft des Landrats hinaufwanderten und die schönen Bäume bewunderten, sagte dieser, sie würden nun am längsten gestanden haben; denn die Gemeinde habe sie an etliche Schreiner verkauft, die sie nächstens fällen wollten. Da entstand ein Sturm der Indignation, in welchen die Frauen wacker einstimmten. Der Landrat mußte versprechen, Schritte zur Rettung der Bäume zu thun, und hielt auch redlich Wort. Der damalige Kronprinz von Preußen hatte unlängst die schöne Ruine käuflich erworben, nicht aber die Allee, die hinauf den Weg beschattete. Auf die Darstellung der Sachlage seitens des Landrats erfolgte nun sofort der Bescheid, daß der Kronprinz auch die Allee kaufen wolle, und so heißt es heute noch ("Vision")2: 

,,Am Weg, der nußbeschattet 
Zum Rheinfels führt empor, ..." 


(2) Es stehen heute [1901] leider nur noch vier der alten Bäume! 


Auch diese vier Bäume fielen und wurden zunächst durch Kastanien ersetzt, die nach 1950 wiederum der Straßenverbreiterung weichen mußten. Wie sehr die Nußbäume einst das Bild der Stadt St. Goar bestimmten wird u.a. auch in dem Gedicht Freiligraths »Von unten auf« aus der Sammlung »Ça ira!« von 1846 sowie in dem Gedicht von Emanuel Geibel »Abschied von Sankt Goar« deutlich.

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