Das Lied der Loreley
Die Geschichte eines 1500-jährigen Mysteriums

Auf der rechten Seite des Rheins, zwischen den deutschen Städten Kaub und St. Goarshausen, erhebt sieh aus dem Fluß das Wahrzeichen der Rheinromantik schlechthin: der 132 m hohe Schieferfelsen Loreley, Nationaldenkmal und weltberühmte Touristenattraktion. Der Name Loreley oder Lurley (Mondstein), wie der Felsen in früheren Zeiten genannt wurde, ist keltischen Ursprungs und wird heute meist im Zusammenhang mit der schönen Nymphe Lore Ley genannt.

Über diese Sagengestalt ist sehr viel geschrieben worden, allerdings waren sich die Forscher lange uneins darüber, ob je eine alte Loreleysage existiert hat oder ob sie auf den Dichter Clemens von Brentano zurückgeht, der im Jahre 1802 seine berühmte Ballade ,,Die Lore Lay" schrieb.

Während die Skeptiker unter den Forschern sich auf die Gebrüder Grimm berufen, die die Loreley nie in ihre Sagensammlungen aufgenommen haben, weil sie sie für eine Erfindung von Clemens von Brentano hielten, verweisen ihre Befürworter auf die mündliche Erzähltradition im deutschen Volk, die keinen Dichter brauchte, um eine Mythengestalt wie die Loreley hervorzubringen. Zudem können sich die Anhänger der Sage auf mehrere Kapazitäten in der Literaturforschung berufen.

Einige Forscher beziehen sich auf das folgende Ereignis aus dem Jahre 1750. Damals fanden Arbeiter beim Abriß einer Burgmauer an der Oberstraße von St. Goar ein eingemauertes Skelett, das durch Eisenringe um Hals und Taille aufrecht gehalten wurde. Es zerbrach beim Versuch, die Ringe zu entfernen und zerfiel zu Staub. Eine Inschrift in der Wand besagte, daß es sich bei dem Toten um den Dichter Gebhard Starenschwerdt handelte, der hier 1501 wegen Ketzerei bei lebendigem Leib eingemauert worden war. Starenschwerdts Verbrechen bestand darin, die Schrift ,,Lorle uffem Ley" verfaßt und herausgegeben zu haben. Damit hatte er zum Arger der Kirche offen seinen Glauben an Seelenwanderung und Wiedergeburt bekannt. In einigen halbzerfallenen Exemplaren, die man bei dem toten Verfasser gefunden hatte, erzählte er die Geschichte von Laura, einer jungen Frau, die dazu verdammt worden war, mehrmals zu leben, um eine von ihr begangene Todsünde zu büßen.

Nach Gebhard Starenschwerdt war Laura eine der 11.000 Jungfrauen, die sich zusammen mit der heiligen Ursula, einer englischen Königstochter, im Jahre 452 auf eine Pilgerfahrt nach Rom begeben hatten. Als die Frauen mit ihren Schiffen rheinaufwärts fuhren, bekam Laura hohes Fieber und mußte schwerkrank Abschied von ihren Reisebegleiterinnen nehmen. Sie fand Hilfe bei den Einwohnern des Fischerdorfes Trigorium (St. Goar). Während Laura von einer heilkundigen Fischersfrau gepflegt wurde, setzten die heilige Ursula und ihre Jungfrauen die Reise fort. Nach ihrer Ankunft in Basel ließen sie die Schiffe zurück und pilgerten zu Fuß nach Rom, um den Papst zu sehen.

Nach ihrer Genesung hielt Laura täglich vom nahegelegenen Lurleberch Ausschau nach den Schiffen der heiligen Ursula und ihrer Begleiterinnen, die auf demselben Weg zurückkehren wollten. Laura hoffte, daß man sie nach Colonia Agrippina (Köln) mitnehmen würde, wo sie zu Hause war. Als jedoch die Monate vergingen, ohne daß die Schiffe der Pilgerinnen zu sehen waren, gab sie allmählich die Hoffnung auf, jemals wieder ihre Geburtsstadt zu sehen.

Von der Felsspitze herab war immer öfter Lauras klagender Gesang zu hören, den auch der grausame Heidenfürst Griso, der in der Nähe hauste, vernahm. Da Laura mit ihrem goldblonden, langen Haar schöner als die Frauen seines Stammes war, begann er sie leidenschaftlich zu begehren. Laura wies ihn jedoch ab, worauf er sich an ihr verging und sie schwanger von ihm wurde.

Einen Monat später fuhren die Schiffe mit der heiligen Ursula und den Jungfrauen auf der Rückreise nach England am Lurleberch vorbei, wo Laura saß und Ausschau hielt.

Ans Verzweiflung, daß Griso sie nicht gehen lassen wollte, stürzte sich Laura den Fels hinab und ertrank vor den Augen der heiligen Ursula und der 11.000 Jungfrauen im Rhein. Als die Pilgerinnen später nach Colonia Agrippina kamen, wurden sie von den am Stadtrand lagernden Hunnen während einer mehrere Tage dauernden Blutorgie vergewaltigt und umgebracht. Laura, die diesem Martyrium durch ihren Selbstmord entgangen war, wurde von Gott dazu verdammt, ihr Leben nochmals zu leben: und zwar im 6. Jahrhundert als die Wäscherin Liuthildis, im 12. Jahrhundert als die Fischertochter Lorle und im 20. Jahrhundert als die Hexe Leonore.

Gebhard Starenschwerdt war überzeugt, daß jede dieser drei Frauen die wiedergeborene Laura aus dem 5. Jahrhundert ist. Er berichtete weiter, daß Kirchenarchäologen im Mittelalter die sterbliche Überreste der heiligen Ursula und der 11.000 Jungfrauen vor den Stadtmauern Kölns gefunden hatten. Die heutige Sankt-Ursula-Kirche in Köln soll auf der Grabstätte der Namenspatronin stehen.

Wie auch immer man zu Starenscbwerdts Angaben stehen mag, es muß als erwiesen angesehen werden, daß die Loreleysage auf seiner Schrift ,,Lorle uffem Ley" basiert. Auch Dichter wie Clemens von Brentano, Heinrich Heine und Julius Wolff haben wahrscheinlich diese Schrift als Vorlage für ihre eigenen Werke über die Loreley genutzt, denn dort finden sich all jene Elemente, die den Kern der gängigen Loreleyerzälilung bilden:

 

* Lorle wird als Neugeborenes aus dem Rhein gefischt, am Fuße des steilen Felsens Mons Lurlaberch (Loreley).

* Lorle wird von einer Fischerfamilie adoptiert und wächst bei ihren Pflegeeltern in St. Goar am linken Rheinufer auf.

* Als sie ihr zwanzigstes Lebensjahr vollendet hat, sagt man von Lorle, daß sie mit ihrem langen blonden Haar und ihren reinen Zügen die schönste Frau im ganzen Rheintal sei. Viele Männer von nah und fern verlieben sich in sie und halten um ihre Hand an.

* Lorle verliebt sich in einen jungen Adeligen, der aber standesgemäß heiratet. Daraufhin zieht sie sich vor allen Menschen zurück.

* Lorle wird immer öfter auf dem nahegelegenen Felsen Mons Lurlaherch gesehen, wo sie durch Schönheit und traurigen Gesang die Männer verzaubert. Diese steuern blind vor Sehnsucht ihre Boote auf den Felsen zu und kommen in den Stromschnellen um.

* Lorle geht dem jungen Adeligen nicht aus dem Sinn. Beim Versuch, sie zu sehen, ertrinkt er.

* Die Bevölkernug macht Lorle für die Unglücksfälle verantwortlich. Die Kirche klagt sie der Hexerei an und verurteilt sie zum Tode.

* Lorle flüchtet auf den Mons Lurlaberch, wird aber von den Reitern des Bischofs eingeholt. Um nicht hingerichtet zu werden, stürzt sie sich den Fels hinunter und verschwindet in den Fluten. Sie wird von einem Hauptmann gerettet und vor ihren Häschern versteckt. Er ermordet sie später, weil sie seine Liebe nicht erwidert.

 

In den meisten Fassungen der Loreleysage haben die Dichter Loreleys Wiedergeburt einfach übergangen, wahrscheinlich weil das Thema Reinkarnation nicht in das christliche Weltbild der damaligen Zeit paßte. In der Schrift ,,Lorle uffem Ley" dagegen wird Laura als Lorle wiedergeboren, um nach dem Mann zu suchen, „der sie nicht ihrer Schönheit wegen, sondern um ihrer selbst willen liebt".

Gebhard Starenschwerdts Schrift schließt mit den Worten, ,,daß der Maun, der Augen zu sehen, Ohren zu hören und ein Herz zu verschenken hat, heute noch Lorle inmitten all der Menschen auf dem Bergfelsen, der ihren Namen trägt - Lorle-Ley -, entdecken kann . Die Schrift ,,Lorle uffem Ley" verschwand zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Ende 1944 jedoch fand ein Schulmädchen auf einem Dachboden in St. Goar ein gut erhaltenes Exemplar. Damals ging das hartnäckige Gerücht, daß hier in der Gegend Lore Leys Grab sein müsse. Ein paar Einwohner von St. Goar und St. Goarshausen suchten auch danach, gaben aber bald auf, ohne etwas entdeckt zu haben.

Beim Einmarsch der amerikanischen Truppen im März 1945 verkaufte die Familie des Schulmädchens die aufgefundene Schrift von Gebhard Starenschwerdt für 100 Dollar an einen US-Offizier, der die wertvollen Blätter mit in seine Heimatstadt San Francisco nahm.

Im Mai 1977 bekam die Familie ,,Lorle uffem Ley" wieder zurück. Seitdem liegt das Werk in einer Stadt am Mittelrhein in einem Bankschließfach.

Im Frühjahr 1990 kam der 35jälrige Amerikaner Michael Limburg an den Mittelrhein und verliebte sich in ein wunderschönes und rätselhaftes Mädchen aus der Gegend, Laura Leonore Gutende. Ihr Name ist unbekannt, weil sie scheu wie ein seltenes Tier war und sich von den Menschen fernhielt. Da die Menschen im Rheintal Laura Leonore so selten zu Gesicht bekamen, kursierten wilde Spekulationen: War sie nur ein Hirngespinst? Eine Hexe? Eine ganz normale Frau aus Fleisch und Blut? Oder, welch unglaubliche Vorstellung, vielleicht Starenschwerdts wiedergeborene Laura? - Ich überlasse es dem Leser dieses Buches, seine eigenen Schlüsse für ein zutreffendes Bild von Laura Leonore zu ziehen.

Auf Vorschlag der Verlages habe ich mein Manuskript um die interessante Entstehungsgeschichte dieses Romans ergänzt. Somit handelt der erste Teil des Buches von der Mühe des Verfassers, die ihm sein erster Roman bereitet hat, und von dem Mann, der ihn mit seinen Erlebnissen zu diesem Buch inspirierte.

Mainz im Sommer 1997   Harry M. Deutsch

 

aus: Harry M. Deutsch: Das Lied der Loreley, Berlin o. J. (1999) ISBN 3-930057-47-6