,,Loreley - romantisches Motiv und Mißdeutung der Romantik"

von Jürgen Helbach

Die Loreley, bekannt als Fee und Felsen,
ist jener Fleck am Rhein, nicht weit von Bingen,
wo früher Schiffer mit verdrehten Hälsen,
von blonden Haaren schwärmend untergingen.

So beginnt Erich Kästner seine 1932 ,,nach einer wahren Begebenheit" gestaltete bitter-böse, satirische Ballade ,,Der Handstand auf der Loreley". Bewußt bezieht er sich dabei auf Heine, ist dessen Gedicht ,,Loreley" wohl auch international zu den bekanntesten deutschen Liedern zu zählen. Als Ausdruck ,,deutschen Gemüts" und Inbegriff der Rheinromantik bietet sich mit diesem Motiv dem kritischen und agressiven Autor Kästner eine Möglichkeit, scharf und treffend mit dem sich abzeichnenden Sieg des Irrationalismus und dem fehlgeleiteten Nationalismus in Deutschland abzurechnen. Der Angriff auf die Turnerbewegung als ,,Demonstration männlich deutscher nationaler Gesinnung" ist zugleich eine satirische Offenlegung der sich aller Vernunft entziehenden Ideologie des Nationalsozialismus.

Daß Kästner hierzu gerade das Motiv der durch Heine weltweit bekannt gemachten Loreley nimmt, zeigt deutlich sein Bestreben, mythischen Sagen und romantischen Märchen entgegenzuwirken. Zudem bewährt sich Kästner gerade auch in dieser Ballade als Mahner und ironisch kommentierender Beobachter seiner Zeit. Damit steht er dann als politischer Autor ganz in der Tradition eines Heinrich Heine, der mit fast prophetischer Gabe immer wieder auf die Gefahren eines alle Grenzen überschreitenden deutschen Nationalismus hingewiesen hat. Sicherlich mußte es den vom Tode gezeichneten Heine in Paris seltsam berühren, daß gerade sein Gedicht ,,Loreley" zu dem deutschen Lied schlechthin wurde. Diese Mißdeutung der politischen Ideen Heines ist denn auch von mehreren Autoren des ausgehenden 19. Jahrhunderts erkannt und für ihre politische Agitation genutzt worden.

Andererseits ist die Popularität gerade des Loreley Gedichtes immer wieder kommerziell genutzt worden. Dies betrifft nicht nur die Fremdenverkehrswerbung, die Attraktivität des Mittelrheintales durch die Bezeichnung ,,Im Tal der Loreley" nur auf das Banale reduziert, nicht nur die fast unüberschaubare Produktion von Ansichtskarten, sondern auch den Einbezug in das musikalische Unterhaltungsgeschäft. Verformungen wie ,,Lore leih mir dein Herz" konnten trotz oder gerade wegen ihrer prinitiven Machart zu einem nicht aufhörenden Erfolg kommen und mit ihrer Vorstellung der feucht-fröhlicher Rheinromantik die Kulturlandschaft fast völlig überdecken. Schon interessanter ist die 1970 von Adam und die Micky's herausgebrachte ,,Loreley auf hessisch", zumal auch diese Persiflage Melodie und Bilder des bekannten Liedes ins Banale und Alltägliche transportiert, Kästners Entmytholigisierung also ebenfalls, wenn auch auf niederer Ebene, intendiert wird.

Es kann nicht Anliegen dieses Beitrages sein, die Wirkungsgeschichte der Loreley-Dichtung umfassend aufzuzeigen. E. Geibels Libretto zur Oper ,,Loreley'. (Musik von F. Mendelssohn bzw. M. Bruch) bedarf sicherlich an dieser Stelle einer späteren besonderen Würdigung. Hier geht es vielmehr darum, am Beispiel ausgewählter Loreley-Dichtungen Entstehungen und Veränderung des Loreley-Motives interpretierend vorzustellen. Neben C. Brentano, dem eigentlichen Erfinder der Loreley-Sage, und Heinrich Heine sollen hier J. von Eichendorff, A. Holz und E. Kästner zu Wort kommen. Vielleicht gelingt es, mit der Beschäftigung mit diesen Autoren die Diskrepanz zwischen dem eigentlich Romantischen und dessen Fehldeutung in der sentimentalen Rheinromantik aufzudecken.

Kein anderer Begriff der Literaturgeschichte ist so häufig gebraucht aber auch fehlgedeutet worden wie der der Romantik. Daher gilt es zunächst, diese großartige Epoche der deutschen und europäischen Geistesgeschichte literaturwissenschaftlich gegen eine weit verbreitete Fehldeutung abzugrenzen.

Die Romantik ist eine gesamteuropäische Bewegung mit ihren Zentren in Deutschland, Frankreich, England und Italien, findet aber in allen Ländern ihre spezifische Ausformung. Über E.T.A.Hoffmann wirkte die deutsche Romantik besonders auf Frankreich, das seinerseits wiederum starke Einflüsse auf E.A. Poe, einen der ersten großen amerikanischen Schriftsteller ausübte. Zeitlich fand die Romantik ihren Höhepunkt vom Ende des 18. Jahrhunderts bis ins erste Viertel des 19. Jahrhunderts. Als Synthese rationaler und irrationaler Kräfte versteht sich die Romantik als Überwindung der Aufklärung. Novalis setzt das Romantische mit dem Poetischen gleich: ,,Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung,... Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Aussehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es." Letztlich soll nach ihm das Leben selbst zur Poesie werden: ,,Das Leben soll kein uns gegebener, sondern ein von uns gemachter Roman sein." oder: ,,So ist die Welt in der Tat eine Mitteilung - Offenbarung des Geistes. Die Zeit ist nicht mehr, wo der Geist Gottes verständlich war. Der Sinn der Welt ist verloren gegangen. Wir sind beim Buchstaben stehengeblieben. Wir haben das Erscheinende über der Erscheinung verloren. Formularwesen." Der Koblenzer Görres unterschied die drei menschlichen Vermögen: Vernunft, Wille und Phantasie. Erst im Dreiklang dieser Kräfte, in der Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst verwirklichte sich der romantische Mensch. Lebensgenuß zielt auf die Vollendung von Wissenschaft, auf die Durchdringung von Kunst und Sittlichkeit. ,,Von allen Seiten deutet es darauf, daß auch die Kunst dem großen Zweck, gottahnliche Menschen zu bilden, sich nicht entziehen dürfe. Kaum wird jemals eine Romantik, welche die Kunst vom Leben ablösen, wie eine selige Luftinsel darüber schweben will, lange gedeihen. Je mehr sie Kraft hat, desto besser wird es ihr gelingen, das Innere mit dem Äußeren zu verbinden, in das große Räderwerk einzugreifen, ohne die Zweckmäßigkeit ihrer Schönheit, ohne der Berechnung ihrer Mysterien aufzuopfern."

Das Wesentliche des Romantischen ist es letztlich, daß das Abgeschlossene fehlt. Eine Bewegung, die das Bewußtsein und die Reflexion, aber auch das Unterbewußte, die Abgrände des Seelischen, Träume, Sehnsüchte und Dämonisches für gleichermaßen wichtig annimmt, muß schließlich an der Überfülle der auf sie einströmenden Probleme scheitern. So ist es auch nicht verwunderlich, daß der größte Teil der mit viel Engagement begonnenen Werke als Fragmente unvollendet blieben. So werden denn Sagen und Märchen die eigentlichen Ausdrucksmittel der Romantiker. Novalis Bekenntnis: ,,Romantik. Alle Romane, wo wahre Liebe vorkommt, sind Märchen - magische Begebenheiten." leitet über zu der romantischen Auffassung von der ,,dichtenden Volksseele." Besonders rein glaubte man die Volksdichtung in unverbildeteren Zeiten, vor allem im Mittelalter, aufzuspüren. Die Märchen wurden wiederentdeckt und erneuert, Volkslied, Volksbuch und Sage wurden gepflegt." In diesen Rahmen paßt sich dann auch Brentanos Ballade von der schönen ,,Lore Lay" ein.

Clemens Brentano: Lore Lay

Wenn H. Heine in seinem Gedicht von 1823 ,,Ich weiß nicht, was soll es bedeuten" von einem ,,Märchen aus alten Zeiten" spricht, so zeigt sich zwar hier noch seine Anlehnung an die Romantik, es entsteht aber, wie eine spätere Interpretation beweisen soll, kein romantisches Gedicht mehr. Schon der Hinweis auf dieses alte Märchen zeigt Heines gebrochenes Verhältnis zur Romantik, war ihm doch bekannt, daß dieses alte Märchen kaum älter als zwanzig Jahre war. 1801 hatte C. Brentano die Ballade ,,Lore Lay" in seinem Roman Godwi veröffentlicht. Damit schenkte er der romantischen Literatur ein neues Motiv, das, entsprach es doch ganz der Vorliebe der Romantiker für alte Märchen, eine Fülle an Bearbeitungen erlebte. Brentano hat das von ihm frei erfundene Märchen immer wieder selbst neu bearbeitet und in andere Formen gegossen. Wichtig wurde aber letzthin gerade diese Ballade, die durch eine freie Übertragung des französischen Dichters G. Apollinaire auch in Frankreich bekannt wurde.

Bei Brentano ist die schöne Lore Lay noch keine Nixe, sondern eine ,,Zauberin", die alle Männer in ihren tödlichen Bann zieht. Geladen vor das bischöfliche Gericht, wird der Bischöf von ihrer Schönheit geblendet und muß die schöne Lore Lay begnadigen. Auf dem Weg zum Kloster erklettert sie den steilen Felsen am Rhein, um sich aus enttäuschter Liebe den ersehnten Tod durch einen Sprung in die Tiefe zu nehmen. Die drei sie begleitenden Ritter finden in der Felswildnis als letzte ihrer Opfer den Tod. Ganz im Sinne der romantischen Theorie von der ,,dichtenden Volksseele" wird von Brentano als Quelle seines ,,alten Liedes" ,,ein Schiffer auf dem Rhein" angegeben. Bereits vor Brentano rankten sich um die Loreley, jenem markanten Felsen, der fast senkrecht 132 m aus dem Rhein aufsteigt, eine Fülle an Sagen. So ist nach dem Volksglauben der Berg von Geistern belebt, die ein zwölffaches Echo wecken. Auch als Aufbewahrungsort für den Nibelungenschatz wurde der Loreleifelsen gelegentlich angesehen. Brentanos Leistung besteht darin, daß er, ausgehend von diesem Volksglauben, in der Person Lore Lay die magische und damit typisch romantische Gestalt erfand.

Schon kurze Zeit später gab es in Vogts ,,Rheinsagen" eine Prosafassung, die als echtes Volksmärchen ausgegeben wurde. Ein neues Motiv war gefunden, und der klingende Name regte weitere Autoren an.

Joseph von Eichendorff: Waldgespräch

Brentanos Versmärchen ,,entfaltete sich auf dem Boden Eichendorffscher Gestaltungsweise zum konzentrierten Stimmungsbild, zum ,,Waldgespräch" zwischen dem einsam streifenden Mann und der Hexe Lorelei." Ist bei Brentano das Geschehen eindeutig zu lokalisieren, so fehlt dieser klare Hinweis auf einen bestimmten Ort bei Eichendorff. Das gesamte Geschehen wird in einen undurchdringlichen Wald verlegt, aus der Zauberin wird die Hexe, die den verirrten Mann ,,nimmermehr aus diesem Wald" entkommen läßt. Wohl wird auch hier ein Schloß am Rhein erwähnt, eine echte Beziehung zum Wasser fehlt aber völlig. ,,Der Schlesier sah in Brentanos Lore nur den Irrgeist, der die drei Ritter ins Auswegslose verlockt. Er verwandelte die Nixenhafte in eine Fee seiner waldreichen Welt." ( U. Jaspersen)

Bereits hier wird das in epischer Breite von Brentano erzählte Versmärchen verdichtet und konzentriert. Überzeugend präsentiert sich das Dämonisch-Naturhafte in der einfachen Form der Volksliedstrophe.
Eichendorffs Freund, der Lyriker H. 0. von Loeben betont in seiner Version des Motivs den Rheinsturz und wird damit zum direkten Vorläufer Heines. Von ihm hat Heine, der auch die anderen Versionen des Motivs kannte, sein unmittelbares Vorbild bezogen.

Bei Loeben tritt zum ersten Mal die ,,schöne Lore" als singende Sirene auf. ,,Das Zauberfräulein sitzt, und schaut auf den Rhein." Damit ist Heines Bild: ,,Die schönste Jungfrau sitzt dort oben wunderbar, . .,, vorgeformt.

Heinrich Heine: Ich weiß nicht, was soll es bedeuten -.

Sicherlich reichte die Mangelhaftigkeit des Loebengedichtes nicht aus, Heine den Impuls zu geben, dem Motiv der Lorelei eine ,,gültigere Gestaltung", vielleicht die endgültige Gestalt zu geben. Im elegische Lyrikzyklus ,,Junge Leiden" ist aus eigener Lebenserfahrung das Thema in dem Gedicht ,,Berg und Burgen schauen herunter" bereits vorgegeben.

Berg' und Burgen schaun herunter
in den spiegelhellen Rhein,
und mein Schiffchen segelt munter,
rings umglänzt von Sonnenschein.
 
Ruhig seh' ich zu dem Spiele
goldner Wellen, kraus bewegt;
still erwachen die Gefühle,
die ich tief im Busen hegt'.
 
Freundlich grüßend und verheißend
lockt hinab des Stromes Pracht;
doch ich kenn ihn, oben gleißend'
birgt sein Innres Tod und Nacht.
 
Oben Lust, im Busen Tücken,
Strom, du bist der Liebsten Bild!
Die kann auch so freundlich nicken,
lächelt auch so fromm und mild.

In diesem Gedicht, entstanden in Heines Bonner Studienzeit und Ausdruck der enttäuschten Liebe zu seiner Cousine Amalie, greift Heine bereits das Motiv der Lorelei auf und ,,könnte wohl am Schauplatz der Brentanofabel entstanden" sein. (U. Jaspersen) Noch betrachtet der Dichter selbst als Schiffer aus seinem ,,munter" dahinsegelnden ,,Schiffchen" das mittägliche Spiel ,,goldner Wellen, kraus bewegt". Aber bereits hier wird die trügerische Verlockung des Stroms deutlich. Noch wird hier nicht von der Männer verschlingenden Loreley gesprochen, aber der Rhein wird bereits der ,,Liebsten Bild". ,,Freundlich grüßend und verheißend" lockt er den Schiffer hinab in ,,Tod und Nacht". Schiffer und lyrisches Ich Heines sind hier noch identisch, persönliche Erlebnisse verhindern daher die Loslösung der Gefühle von der Liebsten Amalie. Erst 1823, nach einer intellektuellen Bewältigung der eigenen Emotionen, gelingt es Heine, in der ,,schönsten Jungfrau" Lorelei das sirenenhaft gefährliche Wesen zu schaffen, das als die Personalisierung des ewig Drohenden und Unerreichbaren wohl keine dichtere Gestalt finden konnte. Heine wählte für sein Gedicht seine Lieblingsform: das Lied. Die damit vorgegebene Gleichförmigkeit löst er durch den daktylischen Rhythmus, geschickte Enjamements und syntaktische Brüche auf.

Besonders der syntaktische Bruch zu Beginn - ,,Ich weiß nicht. . ,, wird nicht fortgesetzt mit . - was es bedeuten soll, sondern mit ,, - - .was soll es bedeuten" - verdeutlicht die Unsicherheit des lyrischen Ichs. Bereits hier zeigt es sich, daß Heine mit dem romantischen Weltbild seiner Vorgänger Brentano, Eichendorff und Loeben nicht mehr zurecht kommt. Zwar wird er noch von dem ,,Märchen aus alten Zeiten" berührt - es stimmt ihn traurig -, aber er kann damit nichts mehr anfangen, er ist nur noch in der Lage, das ,,Märchen aus alten Zeiten" wiederzugeben - ohne eine persönliche Empfindung - und die romantische Kulisse der Landschaft zu beschreiben. ,,Den Schiffer im kleinen Schiffe ergreift es mit wildem Weh." Dieser Schiffer ist aber nicht mehr Heine, sein lyrisches Ich sucht vielmehr nach einer Lösung, nach einer Erklärung für das Geschehen. Wie ein aus dem Traum erwachender kann er am Ende des Gedichtes mit Erleichterung die Ursache seiner Angst und Wehmut benennen: ,,Und das hat mit ihrem Singen die Lore-Ley getan." Mit der Benennung der Namenlosen wird letztlich ihr Bann gebrochen, ihre geheimnisvolle Macht zerstört; für Heine bedeutet dies die Überwindung der Romantik.

,,Persönliche Stimmung und persönliches Erlebnis setzen sich hier aufs sublimste in ein romantisches Bild um. Und dennoch ist dies Gedicht kein romantisches Kunstwerk, sondern nur Ausdruck rückgewandter Sehnsucht nach der Romantik. Heine bekennt hier sein Heimweh nach der Zeit, in der die Blaue Blume geglaubt wurde. Das Geglaubte hat Wirklichkeit. Für ihn ist jene Blume aber eine Illusion." (U. Jaspersen)

Ein späteres Gedicht mag diese Desillusionierung noch einmal veranschaulichen:

Das Fräulein stand am Meere
und seufzte lang und bang,
es rührte sie so sehre
der Sonnenuntergang.
 
Mein Fräulein! sei'n sie munter,
das ist ein altes Stück;
Hier vorne geht sie unter
und kehrt von hinten zurück.

Sicherlich ist Silchers Vertonung, die Heines Gedicht populär machte, daran schuld, daß sein Loreley-Lied so falsch gedeutet werden konnte. Heine hatte mit Wehmut das Ende der Romantik, diesen großartigen Versuch, die Harmonie von Geist und Gefühl zu verwirklichen, erkannt. Vielleicht liegt aber gerade in dieser Sehnsucht nach dem Vergangenen auch der große Erfolg seiner Loreley-Dichtung.
Andere Schriftsteller haben nun gerade diese Sehnsucht als eine Flucht vor der Wirklichkeit angesehen. Wir haben bereits auf die Ballade Kästners hingewiesen. Bevor wir aber diese einer genaueren Analyse unterziehen, ist es nötig eine andere Lorelei-Dichtung zumindest kurz zu erwähnen.

Arno Holz: In der Sonnengasse

Arno Holz gestaltet mit den Mitteln der literarischen Ironie das Motiv der Lorelei in seinem ,,Buch der Zeit" neu. Während sich aber bei Heine dieses ,,Märchen aus alter Zeit" vor der Naturkullsse des Rheinstroms abspielt, verlegt Holz seine Handlung in zwei kleine Zimmer einer engen Kleinstadtgasse. Aus dem feenhaften und ungreifbaren Wesen, aus der ,,schönsten Jungfrau" mit goldenem Haar wird die derbe, schwarzhaarige Resi, ein Wesen aus Fleisch und Blut. Nichts ist mehr von der märchenhaften Idylle der Lorelei-Dichtung geblieben. Wie bei vielen Bildern im ,,Buch der Zeit" geht es Holz darum, die Diskrepanz zwischen Sein und Schein aufzudecken. So werden die ,,schwarzhaarige Resi" und der ,,junge Scholar" durch das an der Wand hängende Kruzifix beziehungsweise durch das auf dem Pult liegende Pentateuch charakterisiert, während sie zum andern die religiöse Sphäre und die damit gegebene sittliche Norm durchbrechen und damit Lügen strafen. Damit greift Holz mit den Mitteln der satirischen Persiflage die Schwäche der kleinbürgerlichen Moral an und deckt die Doppelbödigkeit dieser Moral auf

Erich Kästner: Der Handstand auf der Loreley

Kästners satirische Ballade vom Handstand auf der Loreley soll hier als Endpunkt einer langen Motivkette um die Loreley gesehen werden. Kästners zu Heines ,,Loreley" stark konstrastierende Gestaltungsmittel wie: Übertreibung (,,lust-betonten Zügen"), Pathos (,,vom Schicksal überstrahlt") und die satirische Verfremdung des Schiller Zitates aus Don Carlos: ,,Ein Augenblick, gelebt im Paradiese, wird nicht zu teuer mit dem Tod gebüßt." in:

Ein Augenblick mit zwei gehobnen Beinen
ist nicht zu teuer mit dem Tod bezahlt

verdeutlichen die Kritik des Autors:

Nichtsdestotrotz geschieht auch heutzutage
noch manches, was der Steinzeit ähnlich sieht.
So alt ist keine deutsche Heldensage,
daß sie nicht doch noch Helden nach sich zieht.

Gerade die Deutung des Heine-Gedichtes als romantisches Lied und die damit verbundene Flucht vor der Wirklichkeit wird hier von Kästner bloßgestellt. Mit Bedauern muß er feststellen, daß trotz allem Wandel die Menschen auch weiterhin dem Rationalen nicht zugänglich sind. Immer wieder lassen sie sich zu unreflektierten Handlungen hinreißen, die nicht selten in der eigenen Selbstzerstörung enden.

Schlußbemerkungen

Es ist erstaunlich, daß gerade Heines ,,Loreley" zum Inbegriff der Romantik wurde, obwohl der Skeptiker Heine letztlich doch nur das Scheitern des romantischen Anspruchs mit diesem seinem Gedicht konstatiert. Während bei Brentano, Loeben und Eichendorff das Motiv der Loreley noch ganz in das romantische Weltbild eingebettet ist, ihre Dichtungen heute aber fast völlig unbekannt sind, gelang es dem Heine Gedicht weltweit das Bild der deutschen Romantik zu prägen. Als Aufhänger für die Rheinromantik trug es damit in der falsch hineingedeuteten Sentimentalität entscheidend zu einer falschen, aber weit verbreiteten Fehldeutung der Romantik bei.
Weder Holz noch Kästner konnten erfolgreich gegen diese Mißdeutung ankämpfen. Trotzdem stellt ihr Versuch, die Doppelbödigkeit der bürgerlichen Moral und das Fehlen rationaler Entscheidungsgrundlagen der heutigen Menschen aufzuzeigen, eine interessante Bereicherung des Loreley-Motivs dar.

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